Von Merlin Sythove
Wir haben wohl alle schon irgendwann diese Erfahrung gemacht. Stell es dir vor. Du gehst durch einen Wald, machst einem schönen Spaziergang an einem sonnigen Nachmittag. Plötzlich, hinter dem dichten Gebüsch auf der linken Seite, fällt dir eine hohe Mauer auf. Sie sieht aus wie eine Gartenmauer: etwa zwei Meter hoch, mit dicken Säulen, die sie abstützen, und so weit wie du es beurteilen kannst sieht sie mindestens hundert Jahre alt aus. Du setzt deinen Weg fort, und ein bisschen weiter bemerkst du eine kleine Holztür in der Mauer. Sie ist verschlossen, aber sieht so alt und rostig aus dass du weißt, du könntest sie öffnen wenn du es darauf anlegtest.
Was tust du? Wirst du die kleine Tür aufbrechen und nachsehen was hinter der Mauer ist? Oder bist du zufrieden mit deiner Phantasievorstellung eines Feengartens voller Sonnenlicht und strahlender Menschen, mit Schmetterlingen und duftenden Kräutern und Blumen, einem freundlichen Brunnen der kristallklares Wasser über moosüberzogenes Stuckwerk versprüht? Ich persönlich würde es vorziehen mir meine Phantasie zu bewahren, statt die mögliche Enttäuschung zu wählen und zu sehen, was wirklich da ist. Ich bin vielleicht zu erwachsen geworden…
Aber die Geschichte ist noch nicht am Ende. Du hast ein paar Minuten lang an dieser kleinen Tür gestanden und über deine nächste Aktion nachgedacht, als du ganz plötzlich sicher bist, weiche liebliche Musik und das Lachen von Menschen jenseits der Mauer zu hören. Du vernimmst das Klirren von Gläsern und das verspielten Kichern von kleinen Kindern. Kann es wahr sein? Könnte deine Phantasie Wirklichkeit sein? Existiert dein Feengarten, hier, jetzt, gleich hinter dieser rostigen und verwitterten Gartentür? Hast du etwas gefunden, das du schon immer gesucht hast, seit du zu alt für Märchen warst, auch wenn dir gar nicht bewusst war, dass du auf der Suche warst?
Dein sehnendes Herz zwingt dich die Tür zu öffnen. Um nachzusehen! Um zu hören! Um Teil dieser bezaubernden Vision zu werden! Um den Garten zu betreten, ins Traumland abzudriften, um dich unter die freundlichen Bewohner dieser anderen Welt zu mischen und deine materialistische Gesellschaft für immer zu vergessen! Wirst du die Tür öffnen? Kannst du die Warnungen deines gesunden Menschenverstandes ignorieren? Möchtest du, dass jemand anderes die Tür öffnet und dir sagt was hinter ihr liegt?
Angenommen, ich öffne die Tür für dich. Immerhin bin ich bereits dort gewesen. Ich lege meine runzlige Hand auf die alte Verriegelung, und hebe sie mit einiger Anstrengung hoch. Ich schiebe sie auf, vorsichtig, so dass die morschen Planken nicht auseinander fallen und ich die Überraschung verderbe, und ich sehe hindurch. Dann schließe ich die Tür wieder, und drehe mich mit einem verwirrten Blick auf meinem Gesicht um. Du fühlst wie deine Zuversicht sinkt und entscheidest dich umgehend, bei deiner Phantasie zu bleiben, und nicht zu glauben, was ich dir zu berichten habe. Dennoch möchtest du hören, was ich gesehen habe, und so sage ich es dir. Hinter der Tür ist … nichts. Nur mehr Wald, mehr Bäume. Die Mauer umschließt nichts: es ist nur ein bisschen Mauer, die ins Nichts führt. In der Ferne habe ich eine Familie mit zwei Kindern einen Spaziergang durch den Wald machen sehen. Sie hätte deine Nachbarn sein können… Jetzt, wo ich darüber nachdenke, eigentlich sieht die Mauer aus als wären wir auf der Innenseite von dem, was sie einmal eingeschlossen hat… Und wieder kehrt deine Phantasievorstellung zurück: wäre es nicht großartig , die Mauer wieder aufzubauen, und den Garten wieder so herzurichten, wie er einmal gewesen sein muss…?
Also, was ist der Sinn dieser enttäuschenden Geschichte? Ihr Sinn ist es aufzuzeigen, dass – wenn du dir der Tatsache nicht schon bewusst warst – das Unbekannte oft Anlass zu phantasieren gibt, und dass Phantasien eine sehr mächtige Motivation für das Verhalten der Menschen sind. Phantasieren über einen möglichen Feengarten ist natürlich eine Sache: Phantasien über Hexen und Magie, über dunkle und geheime Treffen und Zauber und das wilde Treiben ist eine ganz andere Geschichte. In der Geschichte, die ich gerade erzählt habe, gibt es keinen Ausweg: du weißt, dass sie erfunden ist. Nimm aber einmal an ich hätte dir erzählt , dass, ja, dein Feengarten existiert, und dass du ihn gefunden hast, und wenn ich dich genug mag, kann ich dich mit mir nehmen und stelle dich dich einigen Leuten vor, und sie mögen auch dich und möchten dich willkommen heißen und lassen dich alle deine Sorgen vergessen und du seist jetzt einer von ihnen. Wärest du immer noch zufrieden gewesen mit deiner Fantasie? Oder möchtest du dein Leben dafür hergeben, es herauszufinden, so oder so? Wärest du enttäuscht zu erfahren, dass es nett ist, aber nicht so anders als dein eigener Kreis von Freunden oder dein eigener Hinterhof?
Hexen sind immer auf dem Zaun. Sie müssen es sein, weil der „Zaun“ das Wort „Hexe“ selbst ist. Ohne eine geheimnisvolle Gartenmauer gibt es keine Phantasievorstellung. Ohne das Wort „Hexe“ gibt es keine Phantasievorstellung. Dass Hexen geheime Dinge tun ist immer impliziert. Gehe einfach zurück zur Geschichte. Auch wenn du selbst durch die Tür geblickt und selbst gesehen hättest, was ich dir erzählt habe, hättest du immer noch deine Phantasievorstellung. Denn wer würde ein bisschen Mauer bauen die keinen Zweck erfüllt? Jemand muss irgendwann einen Grund dafür gehabt haben! Sie muss einmal einen Garten umgeschlossen haben! Was immer du tust, die Mauer ist noch da, und weil sie da ist verschwindet deine Fantasie nicht. Die Vernunft sagt dir, dass deine Fantasie einige Körnchen Wahrheit beinhalten muss.
Hexen sind auch real. Und sie nennen sich Hexen. Es muss einen Grund dafür geben. Auch wenn sie dir erzählen was sie tun, auch wenn sie dir ein Dutzend Bücher von den Farrars, Valiente, Gardner und so weiter in die Hand drücken, deine Fantasie geht nicht weg, weil sie sich Hexen nennen, und tief im Inneren weißt du, dass etwas Besonderes, etwas Geheimes und Wunderbares und auch ein bisschen Beängstigendes daran sein muss eine Hexe zu sein!
Würdest du mir glauben, wenn ich dir sagte, dass Hexen keine Geheimnisse besitzen? Wahrscheinlich nicht. Es würde immer diese kleine zweifelnde Stimme bleiben, die argumentiert, dass, wenn diese Leute das Wort „Hexe“ verwenden, es damit etwas auf sich haben muss. Und selbst wenn es so scheint als würdest du mir glauben, und vielleicht denkst, es ist nett ein Teil dieser Gruppe zu werden und dich selbst eine Hexe zu nennen und ganz mysteriös zu erscheinen für deine Freunde und Nachbarn, könntest du hoffen, dass ich falsch lag. Gibt es sie dann doch, die Geheimnisse? Würdest du nicht geradezu dein Leben hergeben um es zu erfahren?
Nun, einige Leute glauben, dass es Geheimnisse gibt. Presseleute denken für gewöhnlich dass es Geheimnisse gibt, und jeder Spinner kann seinen oder ihren Namen mit den wildesten Phantasien in die Zeitungen bringen. Respektable Christenmenschen können ihren Namen ebenfalls mit ihren wildesten Phantasien in die Zeitungen bringen. Hexen selbst sagen oft sie haben Geheimnisse, was natürlich die Ursache des ganzen Ärgers ist. Die Öffentlichkeit weiß, dass jeder Geheimnisse hat: MI5 , die CIA, die Moonies, Hexen, die Regierung, wer auch immer.
Geheimnisse erscheinen in allen Formen und Größen, und das Wort „Geheimnis“ ist ein weiteres dieser Worte vom Typ „Gartenmauer“: es zwingt uns, über das was hinter der Mauer ist, zu phantasieren…
Also wie steht es dann um die Geheimnisse der Hexen? Wie ich versucht habe zu erklären, hängt alles davon ab, was Ihre Vorstellung von einem Geheimnis ist! Man könnte argumentieren, dass die Geheimnisse der Hexen eigentlich nicht existieren. Oder dass sie keine Geheimnisse sind, sondern einfach nur private Informationen. Wie auch immer du es betrachtest. Und wenn einige Geheimnisse existieren, dann sind sie so geheim, dass du sie nicht verstehen würdest, selbst wenn man sie dir verriete…
Lass mich ein wenig weiter zu erklären (nicht, dass du mir glauben wirst, aber weiter im Text).
Hexen haben keine weltbewegenden Geheimnisse wie zum Beispiel wie man die Atombombe herstellt oder freie Energie aus einem parallelen Universum beziehen kann. Hexen besitzen allerdings die MI5-Art der Geheimnisse: wer, wo, wann, was, warum, wenn und so weiter. Hexen reden in der Regel nicht gerne über ihren Coven (außer mit einem Mitglied der eigenen „Familie“ natürlich!) weil diese Art von Informationen in ihren Augen einfach private Informationen sind, und einen Außenstehenden nichts angehen. Du würdest auch nicht irgendeinem Fremden erzählen mit wem du übers Wochenende aus warst, nicht wahr? Oder was du und dein Ehepartner für heute Abend planen? Es gibt nichts wirklich Geheimes an diesen Informationen, aber sie werden als privat angesehen. Fragen, wie groß ihre Hexenzirkel ist, wer Mitglied ist, wann und wo man sich trifft, welche Art von Ritualen man praktiziert; diese Fragen werden in der Regel mit einem leeren Blick oder einem höflichen „Man stellt keine Fragen von zu persönlicher Natur“ (die Öffentlichkeit muss darüber aufgeklärt werden was eine Hexe für „privat“ hält) entgegnet!
Warum ist das so? Warum verhalten sich Hexen so geheimniskrämerisch bei einfachen Details während alle anderen Religionen sich mit ihren Mitgliederzahlen und ihrer Fähigkeit führende Mitglieder der lokalen Gesellschaft einzufangen brüsten?
Das hat alles mit der Tatsache zu tun, dass Hexen ihre Religion als etwas Besonderes ansehen; etwas, das es zu bewahren und mit nur ein paar vertrauten Freunden zu teilen gilt. Sie wollen definitiv nicht Hans und Kranz zum Beitritt zwingen, weil sie Hans vielleicht nicht mögen und mit Kranz immer in Streit geraten. Für Hexen ist das ganze Konzept von Religion eine private Angelegenheit – etwas, das man mit seinen Göttern teilt, mit Mutter Natur , mit seinem Partner oder ein paar engen Freunden, denen man vertrauen kann. Eine Religion ist der intimste Kontakt mit dem Übernatürlichen (d.h. Gott, Göttin, Göttern oder der Macht, wie es immer es auch gesehen wird), den man erfahren kann. Zu versuchen sich auf der einen Seite für diesen Kontakt zu öffnen während man auf der anderen Seite bemüht ist sich von der Abneigung gegenüber der Person, die neben einem sitzt, abzuschotten funktioniert einfach nicht!
Die andere Art von Geheimnissen, die Hexen besitzen sollen, sind die, die man im „Buch der Schatten“ findet, das angeblich voll von jahrhundertealten überlieferten Ritualen und magische Praktiken ist.
Nun, ich befürchte, dass dies nur Medienhype ist. Viele philosophischen Dinge und rituelle Zutaten oder Symbole sind in der Tat jahrhundertealt – bis zu dreißig Jahrhunderten und mehr. Aber diese sind definitiv nicht geheim. Ich gebe Ihnen ein paar Beispiele. Die Hexen haben ein Neujahr, in der heutigen Gesellschaft Halloween und in einigen älteren Gesellschaften Samhain genannt. Für Hexen beginnt das Jahr (und alles andere) mit einer Periode der Befruchtung und Ruhe in der Dunkelheit. So beginnt unser Tag mit dem Abend, unser Jahr mit dem Herbst , und das Leben mit der Empfängnis in der Dunkelheit des Mutterleibes. Diese Idee stammt von den Kelten, und möglicherweise aus einer Zeit lang vor ihnen, weit vor der Geburt Christi. Nichts Geheimnisvolles daran: jede Hexe wird dir bereitwillig erklären, was Halloween für sie bedeutet und warum sie es feiert. Sie könnte die Symbolik von einfältigen Spielen wie Äpfel Döppen erklären oder die Zukunft mit geschmolzenem Blei vorhersagen, und dir alles über den Zusammenhang zwischen Halloween und Tod erzählen – falls du nicht bereits herausgefunden hast, dass ein Neujahr auch bedeutet, dass ein altes Jahr stirbt.
Ein weiteres Beispiel ist die Zeremonie von Kuchen und Wein. Fast alle Religionen haben ihre Art und Weise den Göttern Dank zu sagen und ein rituelles Mahl mit ihnen zu feiern. Die Christen haben es, die Juden haben ihre heilige Mahl, die Muslime haben es, die Hindu bieten ihren Göttern Speise und Trank dar. Auch hier nichts Geheimes.
Der Rest dieses Buches der Schatten ist genauso un-geheim: es sind nur die spezifischen Angaben wie die Worte und Symbole, die verwendet werden, die sich unterscheiden. Viele dieser Worte wurden von Gardner oder Doreen Valiente und ihre Zeitgenossen geschrieben, und auch heute noch werden Rituale verändert, abgewandelt und ergänzt. Wenn dich das interessiert lies „Eight Sabbats for Witches“ von den Farrars – du wirst nirgends einen detaillierteren Einblick in einige Hexenrituale finden als hier.
Frage eine Hexe aber nicht nach den genauen Formulierungen ihres Rituals: nochmals, sie (oder er) wird das als private Information erachten. Die Worte und Symbole sind ihr eigener Kommunikationsweg mit den Göttern, spezifisch auf ihre eigene „Familie“ zugeschnitten. Wenn du die Götter ebenfalls treffen willst: schön, aber benutze deine eigenen Worte!
Und was ist nun mit all diesen magischen Geheimnissen? Soll das Buch der Schatten nicht voll von magischen Formeln und düsteren Beschwörungen sein? Nun, das hängt davon ab. Es gibt bestimmte Rituale wie spezifische magische Arbeiten durchzuführen sind, wie in jede andere Kunst, zum Beispiel der Herstellung deiner Lieblings- Marmelade: die Zutaten sind geheim. Trotzdem sind sie nicht besser oder schlechter als das, was du in einer ganzen Menge magischer Lehrbücher findest. Um mehr auf den Punkt zu kommen: die magischen Inhalte sind zum größten Teil individuelle Ergänzungen zum Buch der Schatten und nicht integraler Bestandteil der überlieferten Version.
Die Dinge an der die Medien in der Regel interessiert sind, sind Sachen wie “ Wie ist es eine Hexe zu sein?“ oder „Wie fühlt es sich an initiiert zu sein?“ Dumme Fragen. Wie schmeckt eine Orange? Nun, wenn du es nicht weißt, dann wird keine Erklärung von mir dazu führen, dass du weißt wie eine Orange schmeckt! Einfach ausprobieren! Aber denk daran: sobald du eine Orange gegessen hast, wirst du nie wieder derselbe sein…!
Gibt es denn dann keine wirklichen Geheimnisse?
Ich sagte du würdest mir nicht glauben! Du denkst wahrscheinlich, dass mehr daran sein muss als das. Dass es keinen Rauch ohne ein Sabbatfeuer irgendwo geben kann. Nun, vielleicht hast du recht…
Betrachte es mal so. Es gibt nichts Geheimes an einer Hochzeitszeremonie. Jeder weiß von Menschen, die verheiratet sind und Kinder haben. Lies alles darüber, frag jeden den du kennst. Also was ist dann das Geheimnis?
Verheiratet zu sein!
Also ist das letzte Geheimnis der Hexen… dass sie Hexen sind! Was von Anfang an kein Geheimnis war, aber hier hast du’s.
Ich hoffe, ich habe aufgezeigt, dass unsere Sprache und unsere Wortwahl zu Erwartungen und Phantasien führen, und dass keine noch so große Menge von Insider-Informationen unsere vorgefassten Meinungen ändern wird. Wir verwenden Sprache um die Realität darzustellen. Das Furchteinflößendste, was uns passieren kann, ist, mit einer Realität konfrontiert zu sein, für die wir keine Worte haben. Und das Schwierigste, was es zu akzeptieren gilt, ist wenn jemand anderes dir erklärt, dass deine Sprach-Wirklichkeit nicht so real ist, wie du dachtest! Niemand glaubt dir, dass du kein Verbrecher bist, wenn du sagst, dass du ein Mitglied der Mafia bist. Niemand glaubt dass du keine Geheimnisse hast, wenn du behauptest eine Hexe zu sein. So einfach ist das!
Aber nur zwischen dir und mir: lass es uns geheim halten…